Unsere normalen Erwartungen an die Fotografie konzentrieren sich auf die Unmittelbarkeit des Prozesses. Ein Foto ist ein Schnappschuss, ein eingefrorener Zeitausschnitt, gemessen in Sekundenbruchteilen.
Dieses besondere Foto ist anders. Es wurde über einen viel längeren Zeitraum hinweg aufgenommen. Schauen Sie auf den unteren linken Teil des Bildes. Dort ist ein Mann zu sehen, der seine Schuhe putzt. Dieser Mann – dieses Bild – ist die früheste bekannte Fotografie eines erkennbaren menschlichen Wesens. Es wurde 1838 von Louis Daguerre in Paris, Frankreich, aufgenommen.
Es war nicht so, dass der betreffende Mann die einzige Person auf der Straße war. Wahrscheinlich war die Straße voll von Pferden und Wagen und Fußgängern, die ihren Geschäften nachgingen. Vielmehr betrug die Belichtungszeit für das Bild etwa zehn Minuten, was bedeutete, dass sich alles andere in der Szene zu schnell bewegte, um klar erfasst zu werden.
Nur der Mann mit dem erhobenen Bein, der lange genug still stand, um auf dem Foto zu erscheinen, ist überhaupt sichtbar. Der Schuhputzer, der an seinen Schuhen arbeitet, ist ebenfalls zu sehen, obwohl seine Form nicht so deutlich ist.
Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, was der Mann in diesem Moment gedacht hat. Es ist vielleicht eine Erkenntnis, die nur die Phantasie liefern kann: ein Mann von vor zwei Jahrhunderten steht mitten auf einer belebten Pariser Straße und lässt sich zehn Minuten lang die Schuhe putzen. Woran hat er gedacht, als er dort stand? Ich würde gerne versuchen, diese Frage irgendwann einmal zu beantworten.
Das Aufkommen der Fotografie
Die Erfindung der Fotografie erforderte das Zusammenspiel bestimmter Technologien, um das Puzzle zu vervollständigen. Eine Komponente war bereits seit vielen Jahrhunderten bekannt: der so genannte Camera Obscurer, ein Apparat, der ein Bild einer Szene auf eine Leinwand im Inneren eines abgedunkelten Raums oder Kastens projizierte. Es wurde von Künstlern wie Johannes Vermeer verwendet, damit die Bilder genau nachgezeichnet werden konnten und als Grundlage für die Malerei dienten. Die daraus resultierende Projektion war in Wirklichkeit die umgekehrte Realität, so wie man sich selbst im Spiegel sieht.
Das fehlende Element der Fotografie war eine Möglichkeit, das projizierte Bild auf einer Oberfläche zu fixieren. Das heißt, bis man im frühen 18. Jahrhundert entdeckte, dass Silbersalze – auch bekannt als Silberhalogenide – lichtempfindlich waren.
Die erste Fotografie mit einer Camera obscura wurde von dem französischen Erfinder Joseph Nicéphore Niépce gemacht, der einen lithografischen Stein mit Bitumen, einer lichtempfindlichen Substanz, benutzte, um sein Bild aufzunehmen. Man schätzt, dass die Belichtungszeit für Niépces erste Fotografien zwischen acht Stunden und einem ganzen Tag lag.
Louis Daguerre und seine Daguerreotypien
Im Jahr 1837 gelang es Louis Daguerre, ein chemisch behandeltes Kupferblech zur Aufnahme eines fotografischen Bildes zu verwenden. Er nannte es eine Daguerreotypie.
Nachdem die Platte in der Kamera belichtet worden war, wurde das Bild, das sich latent in der lichtempfindlichen Silberjodidschicht befand, durch eine Kombination aus Quecksilberdampf und warmer Salzlösung entwickelt und fixiert.
Daguerre fotografierte zunächst Gegenstände und schuf Stillleben von Gipsabdrücken und anderen Objekten, die sich in seiner Werkstatt befanden. (Daguerre war auch ein gefeierter Theatermacher und Erfinder, was die Gipsabdrücke erklärt.)
Etwa Ende 1837 oder Anfang 1838 richtete Daguerre seine Kamera nach draußen auf die Straße und nahm das Bild des Mannes auf, der sich die Schuhe putzen ließ. Der Blick ging über den Boulevard du Temple in Paris, eine mondäne Gegend mit Geschäften, Cafés und vor allem Theatern – vermutlich hatte Daguerre deshalb sein Atelier in diesem Viertel. Der Boulevard du Temple war auch als „Boulevard du Crime“ bekannt, wegen all der dramatischen Morddarstellungen, die damals bei den Theaterbesuchern sehr beliebt waren.
Meiner Meinung nach ist es ein sehr schönes Foto – unabhängig von seiner einzigartigen historischen Bedeutung. Mir gefällt, dass das zentrale Motiv des Bildes das große, weiße, etwas unscheinbare Gebäude direkt vor uns ist. Es ist leicht schräg gestellt, so dass der Blick des Betrachters sanft nach links gelenkt wird. Mein Blick wandert nach links, um die Straßenkurve und den Boulevard hinauf. Mir fallen die Vordächer der Schaufenster auf und die Baumreihe, die in der Ferne verschwindet. Ich frage mich, wie Paris zu dieser Zeit aussah und wie es wohl war, durch die Straßen zu gehen – und wie gesagt, ich frage mich, welche Gedanken dem Mann durch den Kopf gingen, als er sich die Schuhe putzen ließ.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Zentrum von Paris von Georges-Eugène Haussmann unter Napoleon III. in einem massiven und umstrittenen Stadterneuerungsprogramm weitgehend neu aufgebaut. Der Boulevard du Temple wurde weitgehend abgerissen und umgestaltet, um Platz für den Boulevard du Prince Eugene zu schaffen. Die Zeit treibt schließlich alles voran.